Die fünf Sicherheitsregeln in der Elektrotechnik
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Die fünf Sicherheitsregeln in der Elektrotechnik
Körperdurchströmung (Stromschlag) und Lichtbogenwirkungen können binnen Sekundenbruchteilen zu schweren Verletzungen oder tödlichen Unfällen führen. Pro Jahr verlieren in Deutschland etwa 50–60 Menschen durch Stromunfälle ihr Leben. Die Sicherheit bei Arbeiten an elektrischen Anlagen hat daher höchste Priorität. Aus diesem Grund wurden die fünf Sicherheitsregeln entwickelt – ein Maßnahmenkanon, der einen „Komplettschutz von Anfang bis Ende“ beim Arbeiten an elektrischen Anlagen gewährleisten soll. Diese Regeln sind in Normen und Unfallverhütungsvorschriften fest verankert und haben sich als „Überlebensregeln“ der Elektrotechnik etabliert. Im Folgenden werden die fünf Sicherheitsregeln zunächst definiert und beschrieben.
Die fünf Sicherheitsregeln der Elektrotechnik lauten in der verbindlichen Reihenfolge: (1) Freischalten, (2) Gegen Wiedereinschalten sichern, (3) Spannungsfreiheit feststellen, (4) Erden und kurzschließen, (5) Benachbarte unter Spannung stehende Teile abdecken oder abschranken. Diese Regeln gelten bei allen Arbeiten an oder in der Nähe von elektrischen Anlagen und Betriebsmitteln – von Niederspannung bis Hochspannung – sofern nicht ausnahmsweise unter Spannung gearbeitet werden muss. Ihr Ziel ist es, einen spannungsfreien Zustand herzustellen und sicher aufrechtzuerhalten, sodass gefahrlos gearbeitet werden kann. Jede Regel adressiert eine spezifische Gefahrenquelle und baut auf den vorhergehenden Maßnahmen auf, wodurch ein mehrstufiges Schutzsystem entsteht. Unfallanalysen belegen eindrücklich: Werden alle fünf Sicherheitsregeln konsequent eingehalten, ist das Risiko eines schweren Elektrounfalls praktisch auf Null reduzierbar. Es obliegt daher Ingenieuren, Fachkräften und Führungskräften gleichermaßen, die Einhaltung dieser Regeln zur unbedingten Voraussetzung jeder elektrotechnischen Arbeit zu machen – unabhängig von Zeitaufwand oder Kosten. Sicherheit geht stets vor Schnelligkeit und Produktionsdruck. Die fünf sind in gewissem Sinne „Lebensversicherung“. “Five for Life – fünf Schritte, die dein Leben schützen”.
Freischalten
Freischalten bedeutet, die elektrische Anlage allpolig und allseitig von allen spannungsführenden Einspeisungen zu trennen. Damit wird die Stromzufuhr vollständig unterbrochen (d.h. an allen aktiven Leitern), etwa durch Ausschalten des Hauptschalters, Herausnehmen von Sicherungen oder Trennen von Steckverbindungen. Je nach Spannungsniveau sind bestimmte Trennstrecken erforderlich, z.B. bei Hochspannungsanlagen mittels sichtbar öffnender Trennschalter. Wesentlich ist, dass der freigeschaltete Anlagenteil eindeutig von unter Spannung stehenden Teilen getrennt ist. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt als untere Gefährdungsgrenze eine Spannung von 50 V Wechselspannung bzw. 120 V Gleichspannung – ab diesen Werten muss grundsätzlich freigeschaltet werden (außer es liegen besondere Ausnahmen zum Arbeiten unter Spannung vor). Aus elektrotechnischer Sicht wird durch das Freischalten die Gefahrenquelle „elektrische Spannung“ zunächst eliminiert (die Anlage befindet sich idealerweise im spannungsfreien Zustand). Allerdings dürfen hierbei induktiv oder kapazitiv gespeicherte Energien nicht übersehen werden: Beispielsweise sind größere Kondensatoren ohne Selbstentladungsvorrichtung nach dem Abschalten gezielt zu entladen, da sie sonst auch bei getrennter Spannungszufuhr eine gefährliche Berührungsspannung aufrechterhalten könnten.
Die Verantwortung für das Freischalten liegt bei der Elektrofachkraft, die die Arbeiten ausführt oder leitet. Wird der Anlagenteil nicht von der arbeitenden Person selbst freigeschaltet (z.B. Fernabschaltung durch eine Netzleitstelle in Hochspannungsnetzen), so darf mit den Arbeiten erst begonnen werden, wenn eine mündliche, fernmündliche oder schriftliche Bestätigung vorliegt, dass die Freischaltung durchgeführt wurde. Die Vereinbarung eines Zeitpunktes allein genügt nicht – es muss explizit bestätigt sein, dass die Anlage nun freigeschaltet ist. Wichtig ist zudem, dass auf das anschließende Feststellen der Spannungsfreiheit nie verzichtet werden darf, selbst wenn eine andere Person die Freischaltung vorgenommen und versichert hat, alles sei ausgeschaltet. Dieser Aspekt verweist bereits auf die dritte Regel und unterstreicht, dass jeder Schritt als eigene Sicherheitsstufe unverzichtbar ist.
In der Praxis erfolgt das Freischalten je nach Anlage und Spannungsebene mit unterschiedlichen Mitteln: Im Niederspannungsbereich durch Ausschalten von Leitungsschutzschaltern, Herausnehmen von NH-Sicherungen (ggf. mit Schutzausrüstung, da das Handling von NH-Sicherungen als Arbeiten unter Spannung gelten kann), Ziehen von Steckern etc.; im Hoch- und Mittelspannungsbereich durch Trennschalter, Lasttrenner oder Leistungsschalter mit zugehöriger Erdungsschalter-Funktion. Sichtbare Trennstrecken sind bei Hochspannungsanlagen >1 kV vorgeschrieben, damit zweifelsfrei erkennbar ist, dass getrennt wurde. Insgesamt bildet das Freischalten den ersten und fundamentalen Schritt, der die Voraussetzung für alle weiteren Schutzmaßnahmen schafft: Ohne abgeschaltete Anlage greifen die übrigen Sicherheitsregeln ins Leere.
Gegen Wiedereinschalten sichern
Nach dem Freischalten muss die Anlage gegen irrtümliches oder unbefugtes Wieder-Einschalten gesichert werden. Diese zweite Sicherheitsregel beruht auf der Erfahrung, dass viele schwere Unfälle dadurch verursacht werden, dass Dritte eine Anlage unerwartet wieder unter Spannung setzen, während noch daran gearbeitet wird. Um dies zu verhindern, sind alle Schaltstellen, Trenner und Sicherungen, mit denen freigeschaltet wurde, in gesicherter Stellung zu fixieren. Praktisch bedeutet dies: Schalter werden in der Aus-Stellung verriegelt (z.B. Vorhängeschlösser an Leistungsschaltern oder Schaltschranktüren), abgezogene NH-Sicherungen werden aufbewahrt und gegen Wiedereinsetzen geschützt, etwa durch spezielle Sperreinsätze oder Verschlusskappen. Außerdem sind an der Schaltstelle Hinweisschilder („Nicht schalten – es wird gearbeitet“) gut sichtbar anzubringen. Diese Schaltverbotsschilder müssen aus Isolierstoff bestehen, falls die Gefahr besteht, dass sie in Berührung mit spannungsführenden Teilen kommen könnten, und sie dürfen keinesfalls an aktiven Teilen direkt angebracht werden.
Ein häufig verwendetes Vorgehen ist das „Lockout/Tagout“-Prinzip, wie es international im Arbeitsschutz etabliert ist: Lockout = mechanisches Verriegeln von Schaltern/Trennern, Tagout = Kennzeichnung durch Warnanhänger. Damit wird organisatorisch und technisch verhindert, dass jemand versehentlich die Sperre löst. Herausgenommene Sicherungseinsätze sind sicher zu verwahren, idealerweise bei der Arbeitskraft vor Ort, damit niemand sie unbemerkt wieder einsetzt. Moderne Schaltsysteme bieten hierfür abschließbare Sperrelemente. Zusätzlich zum mechanischen Sicherungsakt sollte die Arbeitsstelle organisatorisch abgesichert sein: Schalthandlungen dürfen nur nach Rücksprache erfolgen (Schaltanweisungen, ausgegeben vom Anlagenverantwortlichen). Für größere Anlagen existieren schriftliche Schalt- und Arbeitsfreigabeverfahren („Schaltprotokolle“ bzw. Arbeitsfreigabescheine), um zu dokumentieren, welcher Anlagenteil freigegeben ist und wer daran arbeitet – insbesondere in der Energietechnik sind solche Verfahren Standard, um Missverständnisse zwischen Schaltwarte und Monteuren auszuschließen.
Aus sicherheitspsychologischer Sicht ist die zweite Regel essentiell, weil sie eine weitere Barriere gegen den Faktor Mensch schafft: Selbst wenn jemand die Freischaltung übersieht oder vergessen hat, verhindert die physische Sicherung ein einfaches Wiedereinschalten. Dennoch bleibt ein Restrisiko böswilliger oder irrtümlicher Missachtung – daher betont die Literatur, dass zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden sollten, z.B. persönliche Absicherung durch Abschließen der Schaltgeräte und Aufbewahren der Schlüssel. Letztlich zielt Regel 2 darauf, den durch Regel 1 geschaffenen spannungsfreien Zustand gegen jede Einflussnahme Dritter zu verteidigen.
Spannungsfreiheit feststellen
Trotz Abschaltung und Sicherung darf niemals angenommen werden, die Anlage sei bereits sicher – die tatsächliche Spannungsfreiheit muss vor Beginn der Arbeiten allpolig festgestellt werden. Dies ist die dritte Sicherheitsregel, deren Missachtung in der Praxis eine häufige Unfallursache ist. Konkret bedeutet „Spannungsfreiheit feststellen“: Mit einem geeigneten zweipoligen Spannungsprüfgerät ist an jedem Leiter zu prüfen, ob keine Spannung mehr anliegt. Die Prüfung muss sich über alle Leiter erstrecken, also auch Neutralleiter und ggf. fremd eingespeiste Leitungen – Allpoligkeit ist gefordert. Hierdurch wird ausgeschlossen, dass etwa durch Umspeisung, Rückspannung oder Ersatzversorgung noch gefährliche Spannungen vorhanden sind. Beispielsweise in größeren Netzen könnten Notstromaggregate, USV-Anlagen oder Photovoltaik-Einspeisungen Teile der Anlage weiterhin unter Spannung halten, sofern nicht alle Zuführungen identifiziert und getrennt wurden. Auch Rücktransformations-Effekte (z.B. Einspeisung vom Niederspannungsnetz ins Mittelspannungsnetz über einen Transformator in Sonderbetriebsfällen) müssen bedacht und durch Messen ausgeschlossen werden.
Die Spannungsfreiheit darf nur durch eine dafür ausgebildete Person festgestellt werden – nämlich eine Elektrofachkraft oder elektrotechnisch unterwiesene Person mit einem normgerechten Spannungsprüfer. Für diese Prüfung gibt es klare Verfahrensregeln: Das Messgerät ist vor und nach der Messung auf Funktion zu prüfen (Eigenkontrolle, z.B. an bekannter Spannung oder mit eingebauter Testfunktion), um sicherzugehen, dass kein anzeigefehler vorliegt. Moderne zweipolige Spannungsprüfer verfügen oft über eine eingebaute Selbsttest-Einrichtung, die ohne externe Spannungsquelle prüft, ob alle Anzeigefunktionen intakt sind. Von unsicheren Methoden – etwa dem Verwenden eines einpoligen Phasenprüfers („Schraubenzieher mit Glimmlampe“) oder ungeeigneter Multimeter – wird in energieintensiven Anlagen ausdrücklich abgeraten, da solche Methoden fehleranfällig und gefährlich sind. Nur Prüfer nach DIN EN 61243-3 (zweipolige Spannungsprüfer) oder gleichwertige Geräte gewährleisten eine eindeutige Anzeige selbst kleinster anliegender Spannungen.
Die Bedeutung dieser Regel wird in Unfallberichten besonders deutlich: Ein dokumentierter Fall aus einer Mittelspannungsanlage zeigt, dass das Unterlassen der Spannungsprüfung zu einem schweren Unfall führte. Der Monteur hatte zwar freigeschaltet und sogar eine Isolierplatte als Abdeckung eingeführt, jedoch nicht geprüft, ob die Hochspannungssicherungen tatsächlich spannungsfrei waren. Aufgrund eines technischen Defekts blieb ein Kontakt geschlossen – die Sicherungen standen noch unter Spannung. Als der Monteur sie berührte, kam es zum Lichtbogenüberschlag mit schweren Verbrennungen. Dieser Unfall wäre vermieden worden, hätte er die dritte Sicherheitsregel konsequent befolgt. Das Beispiel unterstreicht: Die Spannungsprüfung ist der letzte Check, der versteckte Fehler oder Fehleinschätzungen aufdeckt. Sie wirkt als psychologische Barriere gegen die gefährliche Annahme „wird schon spannungsfrei sein“ – eine Annahme, die sich als fatal erweisen kann. In der sicherheitspsychologischen Forschung ist bekannt, dass Menschen zu riskanten Vereinfachungen neigen, wenn frühere Erfahrungen scheinbar gut gingen: Ausbleibende negative Folgen (z.B. „war bisher immer aus, obwohl ich nicht gemessen habe“) können trügerisch bestätigen, Sicherheitsregeln seien überflüssig. Gerade dem entgegnet Regel 3: Sie fordert aktives Überprüfen, anstatt sich auf Annahmen oder vergangenes Glück zu verlassen.
Erden und Kurzschließen
Im Hochspannungs- und Mittelspannungsbereich, aber auch in umfangreichen Niederspannungsanlagen, ist als vierte Maßnahme das Erden und Kurzschließen aller freigeschalteten Anlagenteile erforderlich. Diese Regel dient dem unmittelbaren Personenschutz für den Fall, dass trotz aller bisherigen Schritte unerwartet Spannung auftritt. Durch das Anbringen von Erdungs- und Kurzschließvorrichtungen werden die freigeschalteten Teile absichtlich mit Erde verbunden und miteinander kurzgeschlossen, so dass bei einem eventuellen Wiedereinschalten oder bei induzierten/restlichen Spannungen sofort ein Kurzschluss gegen Erde entsteht. Dieser Kurzschluss würde einen hohen Fehlerstrom verursachen, der seinerseits die Schutzeinrichtungen (Sicherungen, Leistungsschalter) unverzüglich auslösen lässt. Somit ist sichergestellt, dass kein gefährliches Potential länger an der Arbeitsstelle anliegt – die Anlage bleibt entweder spannungsfrei oder geht im Fehlerfall sofort wieder in einen spannungsfreien Zustand über.
Das fachgerechte Erden und Kurzschließen erfordert besondere Vorrichtungen: Erdungsstangen, Erdungskabel oder Erdungsbrücken mit ausreichendem Querschnitt, die für den maximal möglichen Kurzschlussstrom bemessen sind. Wichtig ist die Reihenfolge beim Anlegen: Zuerst wird die Verbindung mit der Erdungsanlage hergestellt, dann der Anschluss an die freizuschaltenden Leiter. Dies verhindert, dass man ein unter Spannung stehendes Teil zuerst berührt – falls doch noch Spannung vorhanden wäre, ist man bereits über die Erdungsanlage in einem equipotenzialen Verbund. Oft erfolgt das Erdung und Kurzschließung in einem Arbeitsgang mittels spezieller Geräte (z.B. Erdungs-Schalter oder kombinierte Erdungs- und Kurzschließseile). In jedem Fall müssen die Verbindungen an blanken, leitfähigen Punkten angebracht werden, z.B. an Sammelschienen, Schalterausgängen oder eigens vorgesehenen Erdungspunkten. Alle Phasen/Polleiter sind zu erden und kurzschließen, einschließlich Neutralleiter in TN-Systemen, um auch dort Potentialunterschiede zu vermeiden.
Warum ist diese Maßnahme notwendig, wenn doch bereits Spannungsfreiheit gemessen wurde? – Zum einen könnten während der Arbeiten unvorhergesehen Spannungen einkoppeln, z.B. durch atmosphärische Einflüsse (Blitzeinschlag induziert Spannung in Freileitungen) oder statische/induktive Kopplung parallel geführter Leitungen (Influenzspannung). Erdung und Kurzschluss entladen solche Einflüsse sofort. Zum anderen schützt es vor Irrtümern und technischen Defekten: Falls doch jemand versehentlich einschaltet oder ein Schalter nicht alle Pole geöffnet hat, würde die Erdung einen Kurzschluss bewirken, der den Fehler sofort offenlegt (durch Auslösen der Sicherungen) und somit die Personen von gefährlicher Berührungsspannung verschont. Allerdings kann ein solcher Kurzschluss selbst heftige Auswirkungen haben (Lichtbogen, mechanische Kräfte); deshalb muss sichergestellt sein, dass niemand direkt an den Erdungsstellen steht und dass die Erdungsvorrichtungen den Strom aushalten. Die Geräte zum Erden und Kurzschließen sind regelmäßig zu prüfen und müssen sichere Kontakte gewährleisten. In Hochspannungsnetzen werden oft an beiden Arbeitsstellenenden Erdungen gesetzt (Doppelerdung), um auch von beiden Seiten abgesichert zu sein.
Im Niederspannungsbereich (unter 1 kV) ist das aktive Erden/Kurzschließen nicht immer üblich – hier hängt es von der Gefährdungsbeurteilung ab. In vielen Fällen wird bei Kleinspannung auf diese Maßnahme verzichtet, sofern eindeutig nur eine Einspeisestelle existiert und keine nennbaren Einwirkungen möglich sind. Allerdings fordern die Regeln prinzipiell auch hier das Erden, wenn die Gefährdung es verlangt (z.B. bei größeren Anlagen mit längeren abgeschalteten Zuleitungen, in denen sich kapazitive Ladungen halten könnten). Für Ausbildungszwecke und das Bewusstsein der Fachkräfte wird jedoch generell gelehrt, dass Erden/Kurzschließen als integraler Bestandteil dazugehört – nicht umsonst heißt es, die fünf Regeln gelten „unabhängig von der Spannungshöhe für Starkstromanlagen“. Somit stellt Regel 4 einen weiteren fail-safe Schritt dar: Sie sorgt dafür, dass selbst bei Versagen der vorherigen Maßnahmen (sei es durch Fehler oder Unvorhergesehenes) das Unfallrisiko minimiert ist.
Benachbarte unter Spannung stehende Teile abdecken oder abschranken
Die fünfte und letzte Sicherheitsregel betrifft den Schutz gegen Gefahren in der Arbeitsumgebung: Auch wenn der eigene Arbeitsbereich nun freigeschaltet, gesichert, geprüft und geerdet ist, können benachbarte Anlagenteile weiterhin unter Spannung stehen. Das ist oft unvermeidbar, etwa weil nicht die gesamte Anlage abgeschaltet werden kann, sondern nur ein Teil davon (z.B. Wartung eines Schaltschranks, während nebenan ein anderer unter Spannung bleibt). Solche benachbarten aktiven Teile stellen ein erhebliches Risiko dar, wenn sie in Reichweite des Personals liegen. Daher verlangt Regel 5: Abdecken oder Abschranken dieser unter Spannung stehenden Nachbarteile, um jede zufällige Berührung oder Annäherung zu verhindern. Abdecken bedeutet, isolierende Abdecktücher, Matten, Hauben oder Schläuche über freiliegende spannungsführende Komponenten zu legen. Abschranken meint, Barrieren oder Absperrungen (z.B. Absperrbänder, Ketten, Gitter) um den Gefahrenbereich zu errichten, kombiniert mit Warnschildern. Welche Methode anzuwenden ist, hängt von der Spannung, der Art der Anlage und den örtlichen Gegebenheiten ab. In Niederspannungsanlagen genügen oft isolierende Abdeckplatten oder -schläuche (auch „Elektro-Isolierschläuche“ genannt). Bei Hochspannung hingegen sind häufig Abstandhalter und Absperrungen erforderlich, um den Annäherungsabstand einzuhalten (z.B. Absperrseile mit Fahnen um die Arbeitsstelle, entsprechend den 5-m-Annäherungszonen bei >110 kV). Wichtig ist, dass die gewählten Schutzhilfsmittel für die vorhandene Spannung ausgelegt sind (Durchschlagsfestigkeit) und sicher befestigt werden, damit sie nicht verrutschen.
Regel 5 ist eng mit dem Konzept „Arbeiten in der Nähe unter Spannung stehender Teile“ verwandt, das in Normen (z.B. DIN VDE 0105-100, § 6.4) und DGUV-Vorschriften (§ 7 DGUV V3) besondere Beachtung findet. Nach DGUV Vorschrift 3 §7 dürfen Arbeiten in der Nähe spannungsführender Teile nur durchgeführt werden, wenn diese entweder durch Abdecken/Abschranken gegen Berühren geschützt sind oder ebenfalls freigeschaltet wurden. Das bedeutet, die Verantwortlichen müssen stets prüfen, ob es nicht doch möglich ist, auch die benachbarten Teile abzuschalten. Ist dies betrieblich ausgeschlossen (etwa weil die Anlage sonst weiträumig stromlos würde), sind eben diese zusätzlichen Barrieren Pflicht. In der Praxis erfordert das oft eine sorgfältige Situationsbeurteilung vor Ort: Welche Teile liegen im Aktionsbereich der Arbeiter? Könnten leitende Werkzeuge oder Leitern unbeabsichtigt in Kontakt kommen? – Dementsprechend werden Schutzausrüstungen angebracht. Gegebenenfalls müssen vor dem Abdecken selbst wieder kurzzeitig weitere Sicherungsmaßnahmen aus Regeln 1–4 angewendet werden (z.B. spannungsfreier Zustand herstellen oder unter Spannung nur von speziell geschultem Personal abdecken). Das zeigt: Regel 5 ist keineswegs trivial, sondern verlangt Umsicht und Planung, um sogenannte Sekundärunfälle zu vermeiden.
Aus arbeitspsychologischer Sicht zielt diese Regel darauf ab, die Aufmerksamkeit der Arbeitskräfte zu entlasten: Wenn gefährliche Teile abgesperrt sind, sinkt die Gefahr, dass in einem unachtsamen Moment ein Handgriff zu weit geht. Menschen verfügen nur über begrenzte Konzentrationsfähigkeit; Abschrankungen fungieren hier als technischer Schutz vor dem allzu menschlichen Fehlverhalten (z.B. Stolpern oder Abgelenktsein). Dabei muss allerdings die Akzeptanz der Maßnahmen hoch sein – die Beschäftigten dürfen Absperrungen nicht als lästige Behinderung betrachten. Eine partizipative Sicherheitskultur, in der Beschäftigte in die Planung der Abdeck- und Absperrmaßnahmen einbezogen werden, fördert die Bereitschaft, diese konsequent umzusetzen. Insgesamt komplettiert Regel 5 den ganzheitlichen Ansatz: Nicht nur die unmittelbar bearbeiteten Teile, sondern das gesamte Arbeitsumfeld wird sicher gestaltet.
Methodische Einbettung: Sicherheitsmaßnahmen, Risikobeurteilung und Gefährdungsanalyse
Die fünf Sicherheitsregeln lassen sich in den allgemeinen Rahmen der Sicherheitsmethodik in Betrieben einordnen. Sie sind kein isoliertes Konstrukt, sondern Teil einer umfassenden Systematik von Gefährdungsbeurteilung, Maßnahmenergreifung und Wirksamkeitskontrolle. Methodisch stehen sie für eine konkrete Ausprägung des Top-Prinzips (Technische, Organisatorische, Personenbezogene Maßnahmen) im Bereich Elektrosicherheit.
Der Prozess beginnt mit der Gefährdungsbeurteilung: Vor jedem Arbeitseinsatz an einer elektrischen Anlage schreibt §5 ArbSchG vor, die Gefahren zu ermitteln und geeignete Schutzmaßnahmen festzulegen. In Bezug auf elektrische Gefährdungen (wie elektrischer Schlag, Störlichtbogen, Brand durch Kurzschluss) ist die anerkannte Schutzmaßnahme erster Wahl die Freischaltung der Anlage und das Arbeiten im spannungsfreien Zustand. Diese Vorgabe wird in Branchenregeln immer wieder betont: „An unter Spannung stehenden Teilen darf – abgesehen von Ausnahmen – nicht gearbeitet werden; somit muss spannungsfrei gearbeitet werden“. Die Gefährdungsanalyse würde also feststellen: Gefahr = elektrische Spannung am Arbeitsplatz; Maßnahme = Abschalten und fünf Sicherheitsregeln einhalten. In vielen Betrieben werden dafür Standard-Arbeitsanweisungen (Standard Operating Procedures) hinterlegt, die genau diese Schritte vorschreiben. Beispielsweise kann eine Freischaltanweisung im Instandhaltungsmanagement-System hinterlegt sein, die ein Techniker vor Ausführung elektronisch abarbeitet (ggf. mit Bestätigung pro Schritt).
Risikobewertung: In der Gefährdungsbeurteilung wird nach Ermittlung der Gefahren das Risiko abgeschätzt, meist als Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere möglicher Folgen. Bei elektrischem Schlag ist die Schwere stets potentiell tödlich, daher ist jedes Auftreten inakzeptabel. Folglich wird die erforderliche Restwahrscheinlichkeit extrem niedrig angesetzt („so gering wie vernünftigerweise erreichbar“ – ALARP-Prinzip). Die fünf Sicherheitsregeln sind genau darauf zugeschnitten, das Risiko gegen Null zu treiben. Würde man rein rechnerisch jeder Barriere (jede Regel) eine gewisse Ausfallswahrscheinlichkeit zuordnen, multipliziert sich das Risiko über fünf unabhängige Barrieren zu einem verschwindend kleinen Wert. Diese verkettete Risikominderung ist methodisch vergleichbar zu SIL-Betrachtungen (Safety Integrity Level) in der Funktionalen Sicherheit, wo mehrere Schutzebenen ein hohes integrales Schutzniveau ergeben. Auch wenn formal bei elektrischen Arbeiten meist keine SIL-Analysen gemacht werden, so entspricht die praktische Handhabung doch diesem Prinzip: Mit jedem umgesetzten Schritt sinkt das verbleibende Risiko exponentiell.
Systematik sicherheitstechnischer Maßnahmen: Die fünf Regeln repräsentieren verschiedene Arten von Schutzmaßnahmen in der gängigen Hierarchie:
Freischalten = Gefahrenbeseitigung an der Quelle (Energietrennung = Eliminierung der Gefahr, analog zu „Entfernen des Gefahrenstoffs“ in der Chemie).
Gegen Wiedereinschalten sichern = technisch-organisatorische Maßnahme (Verhinderung einer gefährlichen Handlung durch Verriegelungen, Schilder – entspricht z.B. dem Verriegeln von Maschinenschaltern, also technisch/organisatorisch).
Spannungsfreiheit prüfen = Kontroll- bzw. Detektionsmaßnahme (Nachweis des Erfolgs der vorherigen technischen Maßnahme, könnte man methodisch als Qualitätssicherungs-Schritt sehen).
Erden und kurzschließen = technische Schutzmaßnahme zur Schadensbegrenzung (Backup-Lösung, falls Spannung doch auftritt, ein Defensivmechanismus).
Abdecken/Absperren = technische Schutzmaßnahme (sekundärer Schutz durch Barrieren/Isolation, analog z.B. zu Trennwänden bei Maschinen).
Auffällig ist, dass persönliche Schutzausrüstung (PSA) als solche in den fünf Regeln nicht explizit genannt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass PSA unwichtig wäre – vielmehr gilt auch hier das Top-Prinzip: Erst technische Maßnahmen (die fünf Regeln), und zusätzlich PSA wo nötig. Im Kontext Elektrotechnik umfasst PSA z.B. isolierende Handschuhe, Schutzhelm mit Gesichtsschutz (gegen Störlichtbogen) und ggf. feuerresistente Kleidung. Diese kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn im Rahmen der fünf Regeln ein Schritt unvermeidbar unter Spannungsnähe erfolgt (z.B. beim Freischalten selbst, falls das Ausschalten nur an einem NH-Sicherungslasttrenner ohne vollständige Berührungssicherheit möglich ist – dann trägt man NH-Schutzausrüstung). In der Gefährdungsbeurteilung wird daher typischerweise festgelegt: „Maßnahmen: Freischalten, sichern, prüfen, erden, abdecken; PSA: Helm, Handschuhe, Schutzbrille…“ etc. Methodisch wird also eine Maßnahmenkette definiert, wobei die fünf Sicherheitsregeln den Kern bilden, ergänzt um PSA als letzte Schutzebene.
Ein weiterer methodischer Baustein ist die Wirksamkeitskontrolle. Gemäß Arbeitsschutzrecht muss der Arbeitgeber überprüfen, ob die getroffenen Maßnahmen wirksam sind (§ 3 ArbSchG). Bei den fünf Regeln geschieht das auf zwei Ebenen: Zum einen unmittelbar – z.B. Spannungsfreiheit messen (Regel 3) ist ja bereits eine Kontrollhandlung, die die Wirksamkeit von Regel 1+2 überprüft. Zum anderen mittelbar – durch Audits, Sicherheitsbegehungen und Unfallauswertungen. Die Berufsgenossenschaften sammeln Unfallstatistiken und stellen fest, in welchen Fällen die Regeln versagt oder nicht angewendet wurden. Eine häufig zitierte Statistik zeigt, dass 90% der gemeldeten Elektrounfälle im Niederspannungsbereich bei Arbeiten im angeblich spannungsfreien Zustand passieren. Diese fast paradox anmutende Zahl bedeutet: Der Großteil der Unfälle geschieht, obwohl eigentlich nach den Regeln gearbeitet werden sollte – was impliziert, dass in vielen Fällen eine oder mehrere Sicherheitsregeln ignoriert oder falsch umgesetzt wurden. Zum Beispiel wird die Regel 3 (Spannungsfreiheit feststellen) laut Berichten besonders häufig vernachlässigt. Solche Erkenntnisse fließen zurück in die Präventionsarbeit: man schult verstärkt die kritischen Punkte, entwickelt ggf. neue Messverfahren (z.B. berührungslose Spannungsdetektoren als Vorprüfung) und verbessert organisatorische Abläufe (etwa doppelte Kontrolle durch zweite Fachkraft vor Arbeitsfreigabe). Auch werden die Normen und Vorschriften gelegentlich angepasst, wenn systematische Lücken erkannt werden. Bisher jedoch hat sich am System der fünf Regeln nichts Grundsätzliches geändert – es bestätigt sich vielmehr, dass das Konzept an sich wirksam ist, solange es befolgt wird. Die Herausforderung liegt also methodisch weniger in der Erfindung neuer Schutzprinzipien als in der lückenlosen Umsetzung des Bewährten.
In diesem Zusammenhang ist die Dokumentation wesentlich: Die Norm DIN VDE 0105-100 fordert, dass Schalthandlungen und Arbeitsfreigaben dokumentiert werden, insbesondere in Mittel- und Hochspannungsanlagen (Schaltprotokolle). Darin wird u.a. festgehalten, dass die fünf Regeln durchgeführt wurden (z.B. „Anlage XY um 09:00 durch Schaltberechtigten freigeschaltet, gegen Wiedereinschalten gesichert, Spannungsfreiheit geprüft um 09:05 durch EFK Mustermann, geerdet und kurzgeschlossen an Punkten A und B, benachbarte Teile in Schaltfeld C abgeschrankt“). Diese Nachvollziehbarkeit dient im Falle eines Unfalls der Ursachenklärung (welche Regel wurde versäumt?) und hat zugleich einen präventiven Charakter: Wer weiß, dass er die Durchführung jedes Schritts dokumentieren muss, ist weniger geneigt, einen davon auszulassen.
Weiterhin lassen sich die fünf Sicherheitsregeln in das Konzept der 7 W-Fragen der Arbeitssicherheit (Wer, Was, Wo, Wann, Wie, Womit, Warum) einordnen. Sie beantworten insbesondere das „Wie“ (nämlich in welcher Weise sicher arbeiten) und „Womit“ (mit welchen Hilfsmitteln – Schilder, Erdungsgerät, Spannungsprüfer etc.). Die Frage „Wer ist verantwortlich?“ wird durch die Rollenkonzepte (Anlagen-/Arbeitsverantwortlicher) beantwortet, was eng mit der Umsetzung der Regeln verknüpft ist. „Warum“ ist allen Beteiligten klar: Um Leben und Gesundheit zu schützen – doch dieses Bewusstsein muss durch ständige Sensibilisierung wachgehalten werden, weil Routine und Zeitdruck das Warum manchmal in den Hintergrund drängen.
Abschließend kann festgehalten werden, dass die fünf Sicherheitsregeln methodisch fest in die Arbeitsschutzsystematik integriert sind: Sie sind Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, Bestandteil der Arbeitsfreigabe-Prozeduren, sie werden in Unterweisungen gelehrt, ihre Einhaltung wird kontrolliert und bei Abweichungen greifen Korrekturmaßnahmen. Insofern stellen sie ein ausgereiftes Sicherheitsmanagement-Modul dar, das exemplarisch zeigt, wie technische und organisatorische Maßnahmen ineinandergreifen, um eine Hochrisiko-Tätigkeit beherrschbar zu machen.
Herausforderungen in verschiedenen Bereichen
Die Grundprinzipien der fünf Sicherheitsregeln gelten zwar immer, doch variieren ihre praktische Umsetzung und die dabei auftretenden Herausforderungen je nach Anwendungsfeld. Im Folgenden wird auf drei exemplarische Bereiche eingegangen: Energietechnik (insbesondere Elektrische Energieversorgung), Industrieanlagen und Ausbildung. Jeder dieser Bereiche hat spezifische Anforderungen, in denen die Sicherheitsregeln interpretiert und angewendet werden müssen.
Energietechnik (Energieerzeugung und -verteilung)
In der Energietechnik – von Hochspannungs-Übertragungsnetzen bis zu Umspannwerken und städtischen Verteilnetzen – sind die fünf Sicherheitsregeln absolut zentral für jeden Schalt- und Arbeitsauftrag. Hier geht es um hohe Spannungen (10 kV bis 380 kV und darüber) und enorme Energien, bei denen ein einziger Fehler katastrophale Folgen haben kann. Entsprechend ist die Anwendung der Sicherheitsregeln in der Schalttechnik streng formalisiert. Beispielsweise gibt es in Leitstellen und Schaltwarte den Prozess des Schaltgesprächs: bevor ein Monteur draußen eine Anlage freischaltet, meldet er sich bei der Netzleitstelle an. Die Leitstelle erteilt eine Schaltfreigabe, und sobald Freischaltung und Erdung erfolgt sind, wird vom Schaltwärter der Arbeitsfreigabeschein erteilt. In diesem Schaltprotokoll sind die fünf Regeln implizit enthalten: Freischalten geschieht nach Schaltanweisung, der Monteur bestätigt „Anlage ist allseitig vom Netz getrennt“, dann „gegen Wiedereinschalten gesichert“ (etwa indem Abschließvorrichtungen angebracht und die Schaltersteuerung auf „aus“ verriegelt wurde). Danach meldet er „Spannungsfreiheit festgestellt mit geprüftem zweipoligem Spannungsprüfer“ – oft schreibt das Protokoll hier sogar vor, an welchen Stellen zu messen ist, um alle Einspeisemöglichkeiten abzudecken. Erdung und Kurzschluss sind in Hochspannungsnetzen unerlässlich: Meist sind an beiden Enden der Arbeitsstelle Erdungsstangen zu setzen, und diese werden im Protokoll dokumentiert. Erst nachdem diese vier Schritte erfolgt und vom Monteur zurückgemeldet wurden, erklärt der Schaltwärter: „Arbeitsstelle ist freigeschaltet, es kann mit Arbeiten begonnen werden“. Die Regel 5 (Abdecken/Abschranken benachbarter spannungsführender Teile) ist im Hochspannungsbereich praktisch gleichbedeutend mit der Einhaltung von Mindestabständen und Absperrungen. Hierzu gibt es genaue Vorschriften: In der DIN VDE 0105-100 sowie den Unfallverhütungsvorschriften sind die Schutzabstände für verschiedene Spannungsebenen festgelegt (z.B. 3 m Abstand bei 110 kV in Luft). Wenn Arbeiten innerhalb dieser Abstände notwendig sind, müssen zusätzliche Abschrankungen (geerdete Schutzgitter oder Planen) eingesetzt werden, oder es muss die benachbarte Anlage ebenfalls spannungsfrei geschaltet werden. Insbesondere in Schaltanlagen mit eng benachbarten Feldern wird oft ein zusätzliches Feld frei geschaltet, um ausreichend Abstand zu gewinnen – oder man setzt Abdeckplatten zwischen den Feldern ein (isolierendes Material, oft GFK-Platten), um die benachbarte Sammelschiene abzudecken.
Eine besondere Herausforderung in der Energietechnik ist der Umgang mit mehreren Einspeisepunkten und übergreifenden Anlagen. Beispiel: Eine 110-kV-Freileitung zwischen zwei Umspannwerken. Hier müssen beide Seiten koordiniert freigeschaltet und geerdet werden, idealerweise zeitgleich – ansonsten könnte das lange Leitungssegment durch Influenzspannungen aufgeladen werden. Tatsächlich werden lange Freileitungen nach dem Abschalten oft durch Erdseile oder spezielle Erdungsfahrzeuge geerdet, um Blitzinduktionen sofort abzuleiten. Zudem kommen in Freileitungsnetzen mobile Erdungsstangen zum Einsatz, die an der Leitung eingehängt werden (unter Beachtung der richtigen Reihenfolge – erst Erdseil, dann Phase etc.). Die fünf Regeln sind hier also technisch aufwendiger umzusetzen, aber unabdingbar. In Kraftwerken und elektrischen Anlagen der Energieerzeugung (Generatoren, Schaltanlagen, große Transformatoren) sind die Prinzipien identisch: Bevor z.B. an einem Generator gearbeitet wird, wird dieser vom Netz getrennt, gegen Zuschalten z.B. durch Verriegeln der Feldschalter gesichert, an den Klemmen wird Spannungsfreiheit geprüft (ggf. Restladungen von Erregermaschinen entladen) und die Klemmen geerdet. Im Bereich Mittelspannung (z.B. 10 kV Verteilnetze) ist die Anwendung tägliches Geschäft von Netzmonteuren: Hier gibt es oft Standard-Erdungssätze, die ein Monteur mitführt. Moderne Mittelspannungsanlagen haben auch integrierte Erdungsschalter, d.h. man kann durch Betätigung eines Schalters zugleich erden – diese sind normativ so konstruiert, dass sie erst einschwenken können, wenn das Feld freigeschaltet und die Trennstrecke offen ist.
Trotz dieser durchdachten Prozesse passieren auch in der Energietechnik Unfälle, meist durch Kommunikationsfehler oder Verstoß gegen die Regeln. Beispielsweise sind „falsches Feld freigeschaltet“ oder „Wiedereinschalten wegen Fehlkommunikation“ bekannte Unfallursachen. Das hat die Branche dazu bewogen, Kommunikationsstandards einzuführen, etwa die Verwendung einer eindeutigen Schaltsprache. In Deutschland gibt es feste Phrasen: „Schalthandlung ausführen: Trenne Leitung XY vom Netz, erde und kurzschließe an Punkt Z“ – diese werden wiederholt zurückgemeldet. Das entspricht dem in sicherheitskritischen Bereichen üblichen „Vier-Augen-Kommunikationsprinzip“ (Sender-Empfänger-Modell mit Wiederholen der Botschaft). Hier sieht man, wie organisatorische Maßnahmen (klare Sprache, Doppelbestätigung) die technischen Sicherheitsregeln ergänzen. Zusammenfassend ist die Herausforderung in der Energietechnik vor allem die Komplexität: Große Netze erfordern straffe Organisation, um die fünf Regeln an allen relevanten Stellen gleichzeitig umzusetzen. Dank hochentwickelter Betriebsvorschriften (DIN VDE 0105-100 und betriebsinterner Schaltanweisungen) und ständiger Schulung gelingt dies heute zumeist – die Unfallzahlen in Hochspannungsnetzen sind relativ gering geworden, weil hier keiner die Regeln infrage stellt. Die DGUV berichtet in den letzten Jahren von bedeutenden Erfolgen, Unfälle in diesen Bereichen nahezu auf Null zu reduzieren. Das verbleibende Risiko in der Energieversorgung sind eher unvorhersehbare Ereignisse (z.B. Fehlfunktionen von Schaltgeräten trotz Freischaltbefehl). Aber selbst dann verhindert die Regel 3 oder 4 meist Schlimmeres, wie im genannten Unfallbeispiel: Hätte der Monteur im MS-Unfall die Spannungsfreiheit geprüft, wäre der Defekt im Schalter rechtzeitig bemerkt worden.
Industrieanlagen und gewerbliche Anwendung
In industriellen Anlagen (Fertigungsbetriebe, Chemieanlagen, Automobilwerke etc.) trifft man auf elektrische Anlagen vielfältiger Art: von der 400 V-Steueranlage bis zur 30 kV-Werksversorgung. Die fünf Sicherheitsregeln sind auch hier verbindlich, doch die Herausforderungen liegen oft in der Vielzahl und Vielfalt der Energiequellen. In modernen Produktionsanlagen sind elektrische Systeme häufig mit mechanischen, hydraulischen und pneumatischen verknüpft. Die sichere Abschaltung umfasst daher nicht nur Strom, sondern ggf. auch Druckluft, Hydraulikdruck, Bewegungsenergie (rotierende Schwungräder) etc. Das Konzept der fünf Regeln hat hier ein Pendant im ganzheitlichen Lockout-Tagout (LoTo) für alle Energiearten. Dennoch bleibt Elektrizität ein zentraler Fokus. Ein typisches Beispiel: Wartung einer Industrieanlage, etwa eines großen Motors oder einer Robotereinheit. Hier muss zunächst die elektrische Zuleitung freigeschaltet (Hauptschalter aus, Trenneinrichtung geöffnet) und verriegelt werden – das ist Regel 1+2. Zusätzlich muss aber eventuell eine Frequenzumrichter-Einheit spannungsfrei gemacht werden, die Kondensatoren entladen (Freischalten schließt auch die DC-Zwischenkreise ein). Dann wird Spannungsfreiheit festgestellt (Regel 3) an den Motoranschlüssen. In der Industrie ist es oft so, dass mehrere Elektrofachkräfte im Team arbeiten. Eine könnte den Schaltschrank abschalten, eine andere misst am Motor – daher ist klare Kommunikation essentiell: wer übernimmt welche Regel? Oft wird eine Person als „Anlagenverantwortliche Elektrofachkraft“ bestimmt, die die Koordination inne hat. Diese Person führt eine Checkliste oder Arbeitsfreigabeformular, wo alle Schritte abgehakt werden. Erdung und Kurzschluss (Regel 4) werden in typischen 400/690 V-Anlagen in Fabriken selten manuell durchgeführt, da nach dem Abschalten und Prüfen die Annahme ist, dass keine Fremdspannung einwirkt. Allerdings gibt es Situationen, wo es doch nötig ist: z.B. große Leitungsanlagen, die durch parallele Führungen induktiv beeinflusst werden können, oder Anlagen mit Notstromversorgung (diese müssten zwar abgeschaltet sein, aber doppelte Sicherheit schadet nicht). Wenn z.B. an Hauptsammelschienen gearbeitet wird, können Erdungsbrücken angebracht werden, um bei Fehlschaltungen sofort Auslösung zu erzwingen.
Regel 5 (Abdecken/Absperren) ist in Industrieanlagen häufig relevant, weil selten die ganze Anlage stromlos gemacht werden kann. Oft werden nur Teilbereiche abgeschaltet, während daneben Maschinen weiterlaufen. Hier kommen portable Abschrankungen zum Einsatz: z.B. Absperrgitter um offene Schaltschränke, Isoliermatten über benachbarte Stromschienen, das Abhängen von Schaltern mit isolierenden Covern etc.. Ein herausforderndes Beispiel ist die Elektroschaltanlage in Prozessindustrien, wo z.B. ein Feld ausgeschaltet wird, das direkt neben einem unter Spannung stehenden Feld liegt. Hier werden häufig Schottungen eingebaut, d.h. feste oder mobile Trennwände zwischen den Feldern, wenn Arbeiten stattfinden. In manchen modernen Schaltanlagen sind solche Trennungen integraler Bestandteil des Designs (schienenseitige Abdeckung). In anderen Fällen muss improvisiert werden: etwa mit Isolierschläuchen über blanken Verbindern oder mit Plexiglasplatten. Die Herausforderung ist, dass trotzdem gearbeitet werden kann – allzu ausgedehnte Absperrungen dürfen die Arbeitsdurchführung nicht komplett behindern. Hier ist Geschick und Erfahrung gefragt, die Gefahrenstellen richtig abzusichern, aber die Bewegungsfreiheit zu lassen.
Ein wichtiger Punkt in Industriebetrieben ist die Organisationsverantwortung. Während auf Energieversorgungsseite oft spezialisierte Schalttechniker arbeiten, hat man in Industriebetrieben auch viel „Mischpersonal“ (Betriebselektriker, Technologen, Mechaniker mit Elektroschulung). Daher regelt die Norm VDE 1000-10 und DGUV Vorschrift 3, dass es in jedem Betrieb mit elektrischen Anlagen eine verantwortliche Elektrofachkraft (VEFK) geben muss, welche die Einhaltung der Regeln überwacht. Diese VEFK sorgt z.B. dafür, dass nur geschulte Personen an der Anlage arbeiten, dass für Arbeiten Freischaltanweisungen existieren und dass Fremdfirmen unterwiesen werden. Speziell das Thema Fremdfirmen/kontraktierte Dienstleister ist heikel: Wenn etwa ein externer Elektriker in einer Fabrik eine Reparatur durchführt, muss klar sein, wer für die Freischaltung zuständig ist. Üblich ist: Die eigene Instandhaltung schaltet frei (denn sie kennt die Anlage) und der externe führt die Arbeit im freigeschalteten Zustand aus, prüft aber ebenfalls nach (Vier-Augen-Prinzip). Dazu werden oft „Arbeitsfreigabescheine“ verwendet, wo der Anlagenverantwortliche bestätigt: „Anlage XY ist nach 5 Regeln freigeschaltet“ und der Auftragnehmer bestätigt: „habe Spannungsfreiheit geprüft, Übernahme der Anlage zum Arbeiten“. Solche administrativen Verfahren sind zwar aufwendig, aber nötig, um Schnittstellen-Probleme zu vermeiden.
Eine aktuelle Herausforderung in der Industrie sind hochkomplexe Anlagen mit verteilten Einspeisungen, z.B. Smart Grids in der Fabrik, Photovoltaikanlagen auf dem Hallendach, Speicherbatterien und Co-Generation (KWK-Anlagen). Sie führen dazu, dass ein Anlagenbereich möglicherweise mehrere Quellen hat (z.B. Netz und PV-Einspeisung über Wechselrichter). Die fünf Regeln decken das grundsätzlich ab – man muss eben alle Einspeiser freischalten und prüfen – jedoch erfordert das ein hohes Maß an Übersicht und aktueller Dokumentation. Fehler in Schaltplänen oder Unklarheiten können fatal sein (z.B. vergisst man die PV-Anlage nachts – sie ist zwar dunkel, aber morgens könnte sie einspeisen). Daher müssen Schaltpläne und Hinweisschilder immer auf dem neuesten Stand sein, und die Elektrofachkräfte müssen laufend fortgebildet werden, um neue Technologien (z.B. Energiespeicher) in ihre Sicherheitskonzepte zu integrieren.
Es sind die fünf Sicherheitsregeln in industriellen Umgebungen fest etabliert, aber die Kontextfaktoren (Zeitdruck, gemischte Teams, komplexe Anlagen) machen ihre Umsetzung anspruchsvoll. Die Unfallstatistik zeigt, dass im gewerblichen Bereich – vor allem in der Instandhaltung – nach wie vor Unfälle passieren, oft weil ein Schritt übersprungen wurde (z.B. nicht prüfen, in Eile nicht abgesperrt, oder Rückspannung aus Nachbaranlagen übersehen). Daher liegt hier ein Schwerpunkt der Präventionsarbeit der BG ETEM und anderer: Man entwickelt z.B. digitale Checklisten, stellt Poster an Anlagen auf („Hast du an die 5 Regeln gedacht?“) und teilt Unfallberichte in Schulungen, um ständig an die Wichtigkeit zu erinnern. Eine Lehre daraus ist, dass Technik allein nicht genügt – die Sicherheitskultur (siehe vorheriges Kapitel) muss gelebt werden. Viele Unternehmen honorieren deshalb auch sicheres Arbeiten: Besser eine Anlage steht 1 Stunde länger still, als dass jemand durch Hast zu Schaden kommt. Diese Haltung in der Führungsetage trägt enorm zur konsequenten Umsetzung der Sicherheitsregeln bei.
Ausbildung und Lehre
In der Berufsausbildung von Elektronikern und Elektroingenieuren spielen die fünf Sicherheitsregeln eine zentrale Rolle von Anfang an. Sie werden meist bereits in den ersten Ausbildungswochen eingeführt, oft bevor der Azubi überhaupt auf eine Anlage gelassen wird. In Berufsschulen und überbetrieblichen Unterweisungszentren gehört das Auswendiglernen und Verstehen dieser Regeln zum Prüfungsstoff. Das didaktische Ziel ist, wie schon erwähnt, dass die Regeln als selbstverständliches Handlungsgerüst verankert werden. Die BG ETEM hat spezielle Schulungsmaterialien für Ausbilder entwickelt (z.B. DGUV-Lernmodule). Darin wird empfohlen, den Auszubildenden erst die generelle Gefährlichkeit von elektrischem Strom nahezubringen (etwa mit Demo-Versuchen, was 230 V in einer Wurst als Fleischersatz anrichten können, oder welche Verbrennungen ein Kurzschluss erzeugt). Sobald das Gefahrenbewusstsein geschärft ist – insbesondere die Erkenntnis, dass der Mensch kein Sensorium für Elektrizität hat und daher externe Schutzmaßnahmen braucht – werden die einzelnen Regeln erarbeitet. Hierbei setzen moderne didaktische Konzepte auf problemorientiertes Lernen: Beispielsweise wird ein (simulierter) Unfallbericht diskutiert und gefragt: „Was hätte man tun müssen, um das zu verhindern?“ So entdecken die Lernenden quasi selbst die fünf Regeln als Lösung. Solche Ansätze fördern ein tieferes Verständnis gegenüber reinem Auswendiglernen.
In der Ausbildung wird auch großer Wert auf das korrekte praktische Anwenden gelegt. So müssen angehende Elektrofachkräfte im Ausbildungsbetrieb unter Aufsicht üben, z.B. eine Maschine freizuschalten: Der Ausbilder beobachtet und hakt nach („Hast du gesichert? Hast du gemessen? Wie misst man richtig?“ etc.). Durch diese Praxisübungen soll sich eine Routine entwickeln, sodass später im Alleingang keine Fehler passieren. Viele Ausbildungswerkstätten haben auch Lehrtafeln oder Modellanlagen, an denen die fünf Regeln gefahrlos geübt werden können (z.B. ein Demo-Schaltschrank mit eingebautem Fehlersimulator, wo der Lehrling Spannungsfreiheit feststellen soll und ggf. absichtlich eine versteckte zweite Einspeisung drin gelassen wurde, um die Aufmerksamkeit zu prüfen).
Ein wichtiger Aspekt in der Lehre ist die Verknüpfung von Theorie und Praxis. Die Regeln werden auch im Unterrichtsfach Elektrotechnik/Schutztechnik theoretisch hergeleitet – oft unter Bezug auf Normen und Vorschriften, damit die Auszubildenden verstehen, dass dies nicht nur „so daher gesagt“ ist, sondern tatsächlich in DIN VDE 0105-100 und DGUV V3 rechtlich fundiert. Das Verstehen des Warum (z.B. warum erden, obwohl abgeschaltet) wird betont, um eine tiefergehende Einsicht zu fördern. Dadurch sollen die künftigen Fachkräfte in die Lage versetzt werden, die Regeln situativ anzupassen, falls nötig. Beispielsweise kann es Situationen geben, die im Schema nicht 100% abgedeckt sind – wer aber das Prinzip verstanden hat, wird im Zweifel eher eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme ergreifen als eine weglassen.
An Hochschulen (Elektrotechnik-Studium) werden die fünf Sicherheitsregeln ebenfalls gelehrt, allerdings oft nur kurz im Rahmen eines Laborpraktikums oder einer Vorlesung „Arbeitssicherheit“. Hier kann die Herausforderung sein, dass Studierende sie als zu simpel abtun („das ist nur was für Praktiker“). Doch gerade beim Übergang vom Studium in die Praxis passieren leider Unfälle, wenn junge Ingenieure, die vielleicht keine klassische Lehre durchlaufen haben, diese elementaren Regeln nicht verinnerlicht haben. Daher bemühen sich mittlerweile viele Hochschulen, Laborübungen strikter nach diesen Regeln ablaufen zu lassen – selbst wenn es nur Kleinspannungsversuche sind, soll die Haltung vermittelt werden: Sicherheit zuerst.
Auch in der Ausbildung von artverwandten Berufen (z.B. Mechatroniker, die ja ebenfalls mit Elektrik umgehen) sind die fünf Regeln Pflichtstoff. Für Personen, die nicht Elektrofachkräfte sind, aber „elektrotechnisch unterwiesen“ werden (EuP), bilden die Regeln einen Rahmen, was sie tun dürfen bzw. was für sie vorbereitet werden muss. Etwa: Ein Mechaniker darf unter Aufsicht einen Motor wechseln, aber nur, wenn die Elektrofachkraft zuvor die 5 Regeln abgearbeitet hat und den Motor spannungsfrei und gesichert übergibt.
Es liegt in der Ausbildung die größte Herausforderung darin, die ständige Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit gegenüber den Sicherheitsregeln zu vermitteln. Junge Menschen neigen manchmal zu Übermut oder unterschätzen Gefahren, insbesondere wenn sie noch keinen Unfall erlebt haben. Hier setzen Ausbilder oft auf Emotionalisierung: echte Unfallbilder (schockierend, aber eindringlich) oder Berichte von Kollegen, die knapp Unfälle überlebt haben. Ziel ist eine Art präventiver Schockeffekt, der jedoch in konstruktives Verhalten münden soll (nicht in Angststarre). So gibt es z.B. Berichte, die erzählen: „Ich habe einmal Regel X missachtet und beinahe mein Leben verloren“ – das bleibt im Gedächtnis haften. Die BG ETEM bietet dafür Medien an, wie die DVD „Schutz vor den Gefahren des elektrischen Stroms“, die modular Unfallszenarien und die entsprechenden Schutzmaßnahmen zeigt.
Erwähnenswert ist auch, dass die Sicherheitsregeln nicht nur in Deutschland ausgebildet werden. Über Austauschprogramme und internationale Kooperationen (z.B. im Rahmen von EU-Projekten zur Arbeitssicherheit) werden diese Konzepte auch in anderen Ländern verbreitet. Beispielsweise hat die österreichische AUVA ähnliche Schulungsmaterialien (die 5 Regeln dort identisch), und in der Schweiz sind sie Teil der SUVA-Unterweisungen. Im europäischen Binnenmarkt ist ja durch EN 50110 ein gemeinsamer Nenner geschaffen, so dass ein Techniker aus Deutschland und einer aus Frankreich im Prinzip nach denselben Grundregeln arbeiten (in Frankreich: „5 gestes de sécurité“).
Eine aktuelle Entwicklung in der Ausbildung ist der Einsatz von E-Learning und Gamification. Es gibt Online-Module, in denen man interaktiv das Freischalten üben kann (virtuell einen Schaltschrank freischalten, und das Programm gibt Feedback, ob die Schritte in richtiger Reihenfolge erfolgten). Solche Methoden sprechen die digital-affine Generation an und können die klassische Unterweisung ergänzen.
Man kann sagen, dass in der Ausbildung die fünf Sicherheitsregeln als fundamentales Berufs-Know-how vermittelt werden – ähnlich wie einem Autofahrer die Verkehrsregeln. Die Nachhaltigkeit dieser Ausbildung zeigt sich darin, dass erfahrene Fachkräfte diese Regeln meistens auch noch nach Jahrzehnten im Beruf aus dem Effeff beherrschen und bei Befolgung unfallfrei bleiben. Wo es hakt, ist oft nicht Wissens-, sondern Einstellungs- oder Aufmerksamkeitsfrage. Deshalb zielen aktuelle Ausbildungsinitiativen darauf ab, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Sicherheitsbewusstsein und -haltung: Sicherheit nicht als lästige Pflicht, sondern als integralen Bestandteil der beruflichen Professionalität zu begreifen.